1. Veränderungen
Da saß er vor mir, dieser Ausbund allen Kapitals. Mächtig, reich und gewohnt zu befehlen. Einer, der die Strippen am richtigen Ende zog. Mein alter Hund, der für gewöhnlich bei jedem neuen Mandanten eine freudige Erregung zeigte, blieb teilnahmslos auf seinem Stammplatz unter meinem Schreibtisch liegen.
„Ich erwarte von Ihnen, Herr Rechtsanwalt, dass die Klage exakt am Gründonnerstag zugestellt wird und ihm das Osterfest gründlich versüßt“, sagte er fast flüsternd. „Sie haben also gute zwei Wochen Zeit. Zugleich schicken Sie ihm die Kündigung.“
Auf eine Million sollte ich einen seiner Arbeitnehmer verklagen. Der Sachverhalt war einfach und die Klage völlig aussichtslos. Mein potenzieller Mandant betrieb ein sehr solventes, mittelständiges Unternehmen, das Spritzgussformen herstellte und als Zulieferer größter Firmen Werkteile aller Art in enormen Massen produzierte. Einer seiner Vorabeiter, der den Plan hatte, einen Betriebsrat zu gründen und dessen Arbeit vornehmlich in der Überwachung, Bestückung und Pflege mehrerer weitgehend automatisch arbeitenden Maschinen bestand, hatte übersehen, dass ein Teil nicht ordnungsgemäß herausgeschleudert wurde, sondern sich in der Form verklemmt hatte und den Ablauf blockierte. Die Maschine lief heiß und stand schließlich still. Der Ausfall war beträchtlich. Die Reparatur dauerte über drei Tage. Aufgrund dessen konnte ein Auftrag nicht fristgerecht erledigt werden. Der Kunde, der eine umfangreiche Auftragsvergabe avisiert hatte, sprang ab. Der entgangene Gewinn solle nach überschlägigen Berechnungen meines potenziellen Mandanten mehrere Millionen betragen, die Fahrlässigkeit des unliebsamen Arbeitnehmers läge auf der Hand.
„Wenn er nicht sogar absichtlich gehandelt hat“, presste er aus engen Lippen hasserfüllt hervor.
Für derartige Fälle hat eine differenzierte Rechtsprechung grundlegende Korrektive entwickelt. So kann ein Arbeiter bei einer Arbeit, die gewisse Gefährdungen mit sich bringt, nur unter engen Voraussetzungen haftbar gemacht werden. Ich sah wenig Chancen, einen Schadensersatzanspruch und eine Kündigung durchsetzen zu können und formulierte vorsichtig meine Einwände, die er souverän akzeptierte.
„Es geht mir nicht um den Schadensersatz, ich will den Mann weghaben, egal, wie und mit welchen Mitteln.“
Ich kannte diese Art von Mandanten und diese Art von Mandaten. Damit verdiente ich seit Jahren mein Geld. Keine Reichtümer, aber ein angenehmes, sorgloses Auskommen. Allerdings nahmen in letzter Zeit die Mandanten ab. Heute Morgen war mir aufgefallen, dass sich unter meinen Augen faltige Säcke bilden und die Haut an meinem Hals unter dem Kinn traurig herunterzuhängen beginnt. In wenigen Monaten würde ich mein 49. Lebensjahr vollendet haben und mein Herbst sich langsam, stetig und unabwendbar meinem Winter nähern.
„Weh mir, wo nehm´ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?“
hatte Hölderlin seine schonungslosen Fragen in der Hälfte des Lebens gestellt und war dabei an die Grenze dessen gegangen, was im dichterischen Wort gesagt werden kann. Heute Morgen beim alljährlichen routinemäßigen Arztbesuch musste ich das Belastungs-EKG wegen akuter Gefährdung abbrechen. Meine Blutdruckmessung hatte erschreckende Werte gezeigt.
„Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.“
Die Mitte des Lebens hatte ich längst überschritten.
„Ich habe ganz erheblichen Beratungsbedarf, als Nächstes werden Sie meine sämtlichen Vertragsbedingungen überarbeiten“, fuhr er fort.
Mir wurde schlagartig klar, dass ich so wie bisher nicht mehr weitermachen konnte, wenn ich den sonnen-, schatten- und blumenlosen Winter noch erleben wollte. Ich überschlug, dass er mir im ersten Jahr der Zusammenarbeit wahrscheinlich um die 50.000 Euro bringen würde, aber ich brauchte nicht mehr zu überschlagen, welchen Preis meine Seele hat.
„Er wird vor Angst zittern, über die Ostertage ist er mit seinem Problem allein. Von der Gewerkschaft wird er keinen erreichen. Sie werden am Ostermontag bei ihm auftauchen und einen Aufhebungsvertrag mit einer kleinen symbolischen Abfindung und unter Verzicht aller gegenseitigen Ansprüche vereinbaren“, triumphierte er mit einem kumpelhaften Lächeln. „Ich kenne ihn, ich weiß wie er funktioniert. Das Ganze wird ein Kinderspiel.“
Ich dachte noch einige Sekunden nach, kam im Angesicht dieses Abgottes des Mammons zu dem Schluss, dass ich jetzt oder nie mein Leben ändern musste und erwiderte dann leise: „Raus“ und als er mich entgeistert und errötend anstierte „schnell, scheren Sie sich raus, ich möchte nicht für Sie arbeiten und will nichts mit Ihnen zu schaffen haben!“
Als er sich aus seiner Erstarrung gelöst hatte, stand er auf, schrie in meine Richtung „Wir passen wohl kaum zusammen!“ und schlug beim Rausgehen die Tür mit einer derartigen Wucht zu, dass der Staub von den Büchern hochwehte und ich fürchtete, sie würde aus den Angeln stürzen. Als meine Sekretärin die Tür öffnete und besorgt den Kopf hereinsteckte, hatte ich mir gerade eine Zigarette gedreht. Ich zog den Rauch des Halbschwarzen kräftig in meine Lungen und genoss ein Gefühl tiefer Befriedigung. Ein guter und vielleicht der letzte Zeitpunkt, dringend notwendige Änderungen vorzunehmen dachte ich, während mir plötzlich auffiel, dass mir die Zigarette nicht schmeckte und der einzige Grund warum ich rauchte, die Gewohnheit zu rauchen war. Daraufhin drückte ich die Zigarette aus und erklärte meiner Sekretärin, dass der Mandant unerträglich gewesen sei, es keinen Anlass zur Beunruhigung gäbe und eine Akte nicht anzulegen sei.
„Aber das sind sie doch meistens, wer geht denn schon zum Anwalt“, sagte sie grinsend und ging zurück in ihr Zimmer im unteren Stock.
Mir war klar, dass dies der letzte Mandant dieser Art und diese Zigarette die letzte meiner langen Raucherkarriere war. Ich hatte schon zu lange Nikotin und mit jeder Zigarette circa 2000 nachgewiesene Schadstoffe inhaliert und Mandate geführt, wie das mir eben angetragene. Das fehlgeschlagene, erschreckende EKG beunruhigte mich. Jetzt war es höchste Zeit, sich auf Wesentliches zu besinnen. Es gibt Wichtigeres als Geld, Sicherheit und Luxus, dachte ich und wusste in diesem Moment nur schemenhaft, was das sein könnte. Schrill brach die Türklingel in meine Überlegungen.
Zu den Aufgaben meiner Sekretärin gehörte es, Termine abzustimmen. Meistens geschieht dies telefonisch. Wenn Mandanten ohne Termin in meine Kanzlei kommen, darf sie frei entscheiden, ob sie einen Termin bekommen oder direkt vorgelassen werden. Nach welchen Prinzipien sie dabei vorgeht, ist mir bisher verborgen geblieben. Wahrscheinlich fragt sie nach der Dringlichkeit, ob Fristen laufen oder sie entscheidet nach Sympathie. Durch die Sprechanlage fragte sie nach, ob sie zwei Herren zu mir hinaufschicken dürfe. Ich bejahte und hörte kurz darauf schlurfende Schritte auf den hölzernen Treppenstufen. Dann klopfte es und auf mein „Herein“ betraten zwei ungewöhnliche Gestalten mein Empfangszimmer. Der eine mochte um die 80 Jahre oder älter sein. Er trug lange, volle, weiße Haare, die mit viel Pomade aus einem mageren Gesicht gehalten wurden, ein bunt gemustertes Hemd, eine Krawatte mit kleinem Blumenmuster und einen abgewetzten, ausgebeulten, dunkelblauen Nadelstreifenanzug, dessen rechtes Hosenbein unten kaum merklich auszufransen begann. In seinem zerfurchten Gesicht prangte ein Schnurrbart, der ebenso voll und weiß war wie sein Haupthaar. Sein Begleiter sah nicht weniger abenteuerlich aus. Er war etwa 40-jährig. Unter einer Halbglatze funkelten schwarze Augen, auch er trug einen Schnurbart, dessen Enden gezwirbelt über die Mundwinkel hingen. Seine Kleidung war ähnlich vielgemustert und abgerissen. Trotz ihres Aufzugs, der erkennen ließ, dass sie sich für den Besuch bei mir feierlich angezogen hatten, strahlten sie eine Würde aus, die meinem vorherigen Besucher in seinem Armani-Anzug abging und mir Respekt einflößte. Wir schüttelten uns die Hände. Ich lud sie mit einer Geste ein, auf den Besucherstühlen vor meinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Der Ältere setzte sich auf den Stuhl, der wahrscheinlich noch von dem millionenschweren Besucher vor ihm angewärmt war. Mein alter Hund erhob sich und ging schwanzwedelnd auf die beiden zu, schnüffelte an ihren Hosenbeinen, ließ sich streicheln und streckte sich wieder behaglich auf dem Boden in ihrer Nähe aus. Wir saßen uns einige Sekunden schweigend gegenüber. Der Jüngere, der seinen Filzhut zwischen den Händen drehte, fixierte mich.
Schließlich brach ich das Schweigen mit meiner üblichen Floskel: „Was haben Sie für ein Problem?“ Ich frage einleitend nie „Was kann ich für Sie tun?“ oder „Wie kann ich Ihnen helfen?“ oder Ähnliches. Solche Fragen stellen sich erst, wenn das Problem bekannt ist und was der Mandant will, kann ebenso schwer zu ermitteln sein, wie der wahre Sachverhalt.
„Es geht nicht um uns“, sagte der Jüngere, während der Ältere sich zurücklehnte. „Die Sache ist sehr schwierig. Wir wollen erst einmal wissen, ob Sie überhaupt bereit sind, sich damit zu befassen.“
Nein, dachte ich, ihr wollt erst einmal sehen, was ich für einer bin und ob ihr mir eure Sache anvertrauen wollt. Ich hatte sofort erkannt, dass es sich um Zigeuner handelte. Zigeuner werden in diesem Gerichtssprengel üblicherweise von Dr. Marian Rosenberger vertreten. Dr. Rosenberger ist nicht nur ein hervorragender Anwalt, sondern vor allem ein Sinto. Zigeuner bleiben aufgrund vieler seit Ewigkeiten andauernden Verfolgungen und Ablehnung, lieber unter sich, bevor sie sich mit einem Gadscho, wie sie den Nichtzigeuner bezeichnen, einlassen.
„Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“ fragte ich. Sie schüttelten beide gleichzeitig den Kopf. „Vielleicht wollen Sie rauchen“, sagte ich und reichte dem Jüngeren eine altmodische, paillettenverzierte Zigarettenkiste, die auf der einen Seite mit filterlosen Zigaretten und auf der anderen mit Filterzigaretten gefüllt war. Der Jüngere griff nach einer Filterzigarette, der Ältere holte einen halb gerauchten, erkalteten Zigarrenstummel aus seiner Jackentasche. Während sie hingebungsvoll pafften, fragte der Jüngere, ob ich nicht rauchen würde und ich erklärte, ich hätte mir das Rauchen kürzlich abgewöhnt.
„Seit wann?“, fragte der Ältere.
„Seit circa 5 Minuten“, antwortete ich.
Ich bemerkte, wie der Jüngere mühsam versuchte, seine Heiterkeit zu unterdrücken und plötzlich prusteten beide lauthals los. Ich stimmte in das ansteckende Lachen ein und wir lachten vielleicht 20 Sekunden. Dann war das Eis gebrochen, denn es gibt kaum etwas Solidarität stiftenderes als gemeinsames Lachen, vielleicht noch mehr gemeinsames Weinen.
„Jede Zigarette ist die letzte“, bemerkte der Ältere „und kurz danach kommt die erste nach der letzten“. Erneut lachten wir.
„Nein“, versicherte ich, „ich meine es ernst. Ich habe eben ein paar Entscheidungen getroffen und dazu gehört auch, das Rauchen aufzugeben.“
„Es geht nicht um uns“, sagte der Ältere nach einer Pause, „sondern um meinen Enkel“ und schilderte das Problem. Mit dem Themenwechsel schlug die Stimmung ins Gegenteil um. Ich wertete als Zeichen wachsenden Zutrauens, dass er, als der Ältere und nicht sein Begleiter, von nun ab das Gespräch führte. Sein Enkel hatte vor über einem halben Jahr einen Verkehrsunfall. Er hatte sich beide Beine kompliziert gebrochen. Am Rücken hatte er sich tiefe Schürfwunden zugezogen. Außerdem hatte er eine schwere Gehirnerschütterung. Es erfolgte sofort eine Notfallbehandlung in einem Krankenhaus. Nach drei Wochen kam der Enkel in einem anderen, berufsgenossenschaftlichen Krankenhaus wieder zu sich, hatte ab dem Nabel abwärts kein Gefühl mehr in seinem Körper und konnte seine Beine nicht mehr bewegen. An die letzten drei Wochen hatte er keinerlei Erinnerung. Ein Krankenpfleger hatte ihm auf seine Frage, wie er hierher käme erklärt, er sei in dem Krankenhaus, in dem er vorher war, aus dem Bett gefallen und habe sich dabei eine Querschnittslähmung zugezogen.
„Es geht darum abzuklären, was vorgefallen ist und ob mein Enkel Ansprüche gegen das Krankenhaus stellen kann“, schloss er seinen Bericht.
„Dazu müsste er mich selber beauftragen“, erklärte ich.
„Er kann sich nicht bewegen“, antwortete der Ältere, „Sie müssten zu uns kommen.“
Ich schaute auf seine Hände, die er über seinem Holzstock mit einem runden Silberknauf verschränkt hatte und sah dort einen großen Amethyst Ring. Solche Ringe tragen bei den Roma nur sehr einflussreiche Persönlichkeiten.
„Ich müsste zunächst die Krankenakten lesen und abklären, wie es zu der Verletzung gekommen ist. Das ist ein erheblicher Aufwand. Kommt eine Rechtsschutzversicherung für die Kosten auf?“, fragte ich routinemäßig, obwohl mir klar war, dass ein Zigeuner niemals eine Rechtsschutzversicherung abschließen würde. Denn mit einem Gadscho würde er nur in seltenen Ausnahmefällen vor Gericht ziehen und mit einem Zigeuner niemals. Unter ihnen gibt es eine eigene Gerichtsbarkeit, den Kris, ein Schieds- oder Ehrengericht mit eigenen Regeln und eigenen Strafen. Die schlimmste ist die Verbannung. Es gibt für einen Zigeuner nichts Unerträglicheres als die Vereinzelung, die verweigerte Zugehörigkeit.
„Nein“, sagte der Ältere erwartungsgemäß, „er hat keine Versicherung und Geld hat er auch keins.“
„Dann mach ich es über Beratungs- oder Prozesskostenhilfe“, erklärte ich.
Für den Fall der Mittellosigkeit springt der Staat ein. Allerdings sind die Gebühren dann sehr viel geringer. Ist man aber erfolgreich, zahlt der Gegner die vollen Gebühren.
Ich fragte: „Warum sind Sie nicht zu Dr. Rosenberger gegangen?“
Die Antwort war so einfach wie irrational: „Dr. Rosenberger ist ein Sinto, wir sind Rom. Deswegen gehen wir lieber direkt zu einem Nichtzigeuner“.
Das war glatt gelogen. Sinti und Roma sind sich keineswegs feindlich oder skeptisch gesinnt. Sie haben denselben Ursprung, nur dass es sich um west- und osteuropäische Zigeuner handelt. Wahrscheinlich schuldeten sie Dr. Rosenberger Honorar oder es gab irgendwelche anderen persönlichen Unstimmigkeiten. Wir verabredeten meinen Besuch für den Abend des darauffolgenden Tages. Sie nannten mir ihre Namen. Pustina Boran und Goran Boran und ihre Anschriften. Sie wohnten in einer einsamen Gegend außerhalb der Stadt, allerdings nicht aus ziganromantischen Gründen. Mit Zigeunern will niemand etwas zu tun haben.
Keiner will ihre Nähe.
2. Am Lagerfeuer
Sie lebten in einer sogenannten Kumpanija zusammen. Zu mehreren wohnten sie als aufeinander eingeschworene Gemeinschaft in einer aus kleinen Baracken bestehenden Siedlung am Rande des Gewerbegebietes kurz vor den Müllhalden. Wenn der Wind ungünstig stand, war es vor Gestank dort kaum auszuhalten.
Es dämmerte. Ich hatte den Wagen in einiger Entfernung abgestellt, als ich die Hütten sah, denn das Gelände wurde immer unwegsamer. Ich befürchtete einen Achsenbruch oder den Wagenboden aufzureißen, wenn ich weiterfahren würde. Ich ging eine kurze Strecke. Die größte der Baracken nahm Kontur an, daneben befand sich eine scheunenartige Garage, davor brannte ein Feuer. Dann kamen die Hunde. Ein Rudel von sechs oder sieben Tieren in verschiedenen Größen. Alle hatten glattes, kurzes und helles Fell, hochstehende Ohren und kräftige Gebisse. Die beiden größten rannten bedrohlich bellend auf mich zu, die anderen kläfften und hielten sich kurz hinter ihnen. Das ist der erste Test, dachte ich. Ich blieb stehen, stellte mich seitlich zu den Hunden, sodass ich nicht konfrontierend und kleiner wirkte, zog den Kopf zwischen die Schultern und steckte meine Hände in die Hosentaschen. Denn von den Händen geht jede Aktivität aus, sei es Bedrohung oder Abwehr. Meinen Blick lenkte ich über ihre Köpfe, sodass ich sie zwar in meiner Sicht behielt, aber nicht fixierte. Einer der beiden großen stoppte kurz vor mir ab und sprang kläffend vor und zurück. Die anderen rannten im Kreis ungeordnet um mich herum, ab und zu streifte mich einer. Mir war klar, wenn ich nicht weitergehen würde, und die anscheinend für Wachhunde noch tolerable Distanz zu dem Lager halten würde, würden sie mich nicht angreifen. Ich war seit Jahren mit Hunden vertraut. Trotzdem wurde mir die Situation unheimlich. Ich begann, den Text zu Schuberts „Lied der Mignon“ zu singen. Während ich die Verse des Weimarer Olympiers:
„Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh ich im Firmament
Nach jeder Seite“
laut und falsch schmetterte, zeigte sich die Meute beeindruckt. Sie hörten auf zu bellen. Der Größte setzte sich vor mich und dreht den Kopf schräg nach links und rechts. Wie alle Hunde war er musikalisch und fand meinen Gesang sicher erbärmlich. Dann kam ein kleiner Junge von höchstens 6 Jahren auf mich zu. Er pfiff auf zwei Fingern und die Hunde rannten zu ihm. Er winkte mir, ihm zu folgen und ich ging im Abstand von circa fünf Metern hinter ihm und den Hunden her. Die Hunde liefen zwischen uns. Ab und zu drehte sich einer nach mir um.
Vor den Baracken saßen sie um ein Feuer. Etwa 12 Personen, darunter die beiden Besucher und ein junger Mann im Rollstuhl. Pustina Boran stand auf und gab mir freundlich lächelnd die Hand. Seine Wangen waren vom abendlichen Wein etwas gerötet. Goran Boran, der älteste aus der Gruppe, blieb würdevoll sitzen. Ich schüttelte auch ihm die Hand. Die anderen begrüßte ich, indem ich allseits einen schönen Abend in die Runde wünschte, sie murmelten gemeinsam ihren Gegengruß. Auf einem großen Rost brieten Gemüse und verschiedene Fleischstücke über einer schwelenden Glut. Die heiße Luft stieg flirrend um die Grilladen herum auf, ein würziger, angenehmer Duft verbreitete sich. Goran bedeutete mir mit einer einladenden Geste, sich neben ihn zu setzen. Ich setzte mich auf eine Matte, die auf dem Boden lag. Er saß etwas höher als die anderen auf einem billigen, vergammelten Plastikstuhl. Eine junge Frau, die ungewöhnlich schön war und die eine verblüffende Ähnlichkeit mit der jungen Gina Lollobrigida hatte, brachte mir eine Schale mit Wasser, einen Teller und einen Pappbecher. Ich fragte, was für Fleisch sie grillten. Goran erklärte erläuterte, es sei typisches Zigeuneressen. Sie seien nicht sehr festgelegt und würden alles essen, was sie fänden. Neben fettem Schweinefleisch äßen sie, wenn nichts anderes aufzutreiben sei, schon mal Ratten oder Hamster, auch in Lehm gebackene Schlangen schmeckten wunderbar. Er fragte, welches Fleischstück er mir reichen dürfe und führte eine Zange in Richtung des Grills. Ich wollte nicht unhöflich sein, wollte aber unter keinen Umständen ein Stück Nagetier essen. Denn was gutes Essen anbelangt, neige ich nicht zu Experimenten. Also teilte ich ihm mit, dass solche Genüsse für mich sehr ungewohnt seien und lehnte ab. Zwei unmittelbar in der Nähe sitzende Männer und das schöne Mädchen hatten das Gespräch verfolgt. Sie lachte lauthals los, die beiden anderen stimmten ein.
„Ihr Gadsche seid schon komisch“, sagte Goran grinsend, „ihr glaubt alles, was man euch erzählt. Selbst den größten Blödsinn. Wir würden niemals Ratten, Hamster oder Schlangen essen. Lieber würden wir verhungern. Sie müssen nicht alles glauben, was man über uns sagt. Die ständige wiederholte Geschichte, Igel seien für uns Delikatessen, ist eine verrückte Erfindung. Wahrscheinlich hat vor Urzeiten irgendein Rom sich damit über irgendeinen Gadscho lustig gemacht. Da wir oft unterwegs sind, müssen wir auf gesunde und saubere Nahrung achten. Keiner der auf Fahrt ist, kann sich eine Krankheit leisten.“
Ich schämte mich für meine Vorurteile, die er mir auf seine Weise aufgezeigt hatte. Niemand aus der Gruppe benahm sich mir gegenüber unfreundlich. Auch wenn sie schlitzohrig über mich spöttelten, gab es keine frostige Distanz, keine Abschätzungen, sondern wohlwollende, herzliche Zuwendung. Sie lachten nicht etwa über meine Dummheit, sondern über eine Situation, die sie witzig fanden. Nur das Verhalten einer uralten, zahnlosen Frau, die aussah, wie die Hexe auf den Bildern in Märchenbüchern, war anders. Sie fixierte mich argwöhnisch mit ihren von unzähligen Falten umgebenden schwarzen Augen und wechselte kein Wort mit mir.
Goran erklärte mir, dass ich mit den Händen essen sollte. Das Fladenbrot, das er mir reichte diente, wie in Indien oder Marokko, dazu die Fleischstücke aufzunehmen, die Wasserschale zum Händewaschen. Dies fand er zu Recht hygienischer als den Gebrauch immer derselben Speisewerkzeuge, die nach seiner Meinung nie vollständig gereinigt werden können.
„Irgendein Dreck bleibt immer daran hängen. Es ist wie mit den Gerüchten“, sagte er. „Außerdem verbraucht das Säubern zu viel Wasser.“
Ich fragte, ob er niemals ein Essbesteck benütze.
„Nein niemals, vor allem nicht bei Spaghetti mit Tomatensoße. Die rollen wir ganz schnell um Daumen und Zeigefinger, indem wir sie durch die Luft wirbeln. Das Gematsche, wenn die Soße in alle Himmelsrichtungen spritzt, gefällt mir ganz besonders. Auch die Butter mit der flachen Hand aufs Brot zu streichen, macht uns großen Spaß.“
Pustina und das hübsche Mädchen neben ihm lachten sich kaputt über seine Antwort. Es gefiel ihnen, dass mir das aufregend gewürzte Lammfleisch und die frischen, gerösteten, überscharfen Paprika und die Tomaten schmeckten. Der Rotwein, den wir aus den Pappbechern tranken, war ebenso vorzüglich, wie das ungewöhnliche Fleisch. Meine Gastgeber freuten sich, als ich eine zweite Portion mit sichtlichem Behagen auf meinen Teller nachlegte. Wir sprachen angeregt über ihre Lebensgewohnheiten, ihre Fahrten, ihre Ausgrenzungen und die Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Goran erklärte mir, wie wichtig eine strenge Hygiene ist, wenn man auf engem Raum lebt und lange reist. Da darf man nicht krank werden, einer der krank wird, gefährdet und behindert alle anderen. Vielleicht aus diesem Grund haben die Zigeuner ein strikt dualistisches, äußerst kompliziertes Wertesystem entwickelt, in dem der Gegensatz von mahrime und zuzo eine zentrale Bedeutung hat. Diese Adjektive lassen sich nur unzureichend übersetzen. Im Groben bedeuten sie rein und unrein. Alles Unreine ist strikt zu vermeiden. Wie und auf welche Weise dies geschieht, folgt einem unübersichtlichen System von unzähligen Regeln, Geboten und Verboten. Ist ein Gegenstand mahrime, darf er nicht mehr benutzt werden. Der Unterkörper, vor allem der der Frau, ist mahrime, der Oberkörper zuzo. Kleidungsstücke, die für den Unterleib bestimmt sind, sind getrennt und anders zu waschen, als jene die am Oberkörper getragen werden. Möglicherweise müssen sie weniger oft gewaschen werden, weil sie ohnehin mit den unreinen Körperteilen in Berührung kommen und hierdurch sofort mahrime werden. Dies erklärt, dass Zigeuner niemals einteilige Overalls und ihre Frauen keine einteiligen Kleider tragen. Sie bekämen Probleme, wie diese zu waschen wären, ohne die Reinlichkeitsgesetze zu verletzen. Auch dass die Zigeunerinnen ungeniert Einblicke in ihre sehr tief dekolletierten Blusen gewähren, aber schamhaft ihre Beine unter langen Röcken verbergen, findet hier seinen Ursprung.
Wir sprachen über die jahrhundertealten Verfolgungen und Anfeindungen. Über die jüngsten Ausweisungen der Roma in Frankreich, die fehlgeschlagenen Versuche, sie sesshaft zu machen. Die kürzlich erfolgten Übergriffe in Ungarn durch rechtsnationale Parteien und die Vernichtung von einer geschätzten halben Million in den Schinderhütten der Nazis. Jeder aus den Familien hatte hier, beim porajmos, dem großen Verschlingen, wie sie es in ihrer kraftvollen, bildhaften Sprache nannten, Vorfahren verloren. Die Vorurteile der Gadsche - was so viel bedeutet wie der Bauer, bei Bedarf aber auch der Fremde, der Sesshafte oder der Tölpel oder einfach nur der Nichtzigeuner - sind so alt wie die Rasse der Zigeuner.
Als ich schon einiges getrunken hatte, sprach ich das Mandat an, das mich hierher und unter sie geführt hatte. Der junge Mann im Rollstuhl hieß Chakka. Er erzählte mir seine Leidensgeschichte. Er war 24 Jahre alt. Nach einer Lehre als Kfz-Mechaniker, die er mit sehr gutem Ergebnis abgeschlossen hatte, fand er nirgends eine Anstellung, obwohl er ein begnadeter Schrauber war. Zwar wurde er auf fast jede Bewerbung zu einem Vorstellungsgespräch geladen, doch sein Äußeres verriet sofort den Zigeuner. Niemand wollte ihn einstellen. Also hielt er sich mit schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs über Wasser und setzte außerdem die Fahrzeuge der Gruppe instand. Mindestens drei Mal im Jahr war er mit einigen von ihnen über Land gefahren. Meist zur Spargelernte im Frühling in den Westen. Ende Mai ging es nach Les Saintes-Maries-de-la-Mer zum großen Treffen zu Ehren der Schwarzen Sara, die nach altem Zigeunerglauben die Mutter Gottes und Maria Magdalena aus Seenot vor dem Ertrinken gerettet haben soll, und im Herbst zur Weinernte in den Süden. Manchmal hatte er Schrottautos in die Balkanstaaten überführt, in denen es keinen TÜV gibt. Neben der Automechanik galt seine Leidenschaft der Musik. Er spielte Geige und Gitarre. Seit seinem Unfall hatte er die Instrumente nicht mehr angerührt.
„Mir fällt nichts mehr ein. Außerdem kann ich nicht im Sitzen spielen. Ich muss dabei die Füße bewegen, sonst komme ich aus dem Takt.“ Auch mit den Fahrten, außer zum großen Treffen, war es vorbei. „Im Winter dieses Jahres hatte ich den Unfall. Wir hatten in einer Dorfkneipe Musik gemacht. Das war schon irgendwie seltsam. Den Leuten gefiel nicht was wir spielten. Wir versuchten es mit alten, immer gern gehörten Schnuckenack-Reinhardt-Stücken, mit gefälligen Walzern und schließlich improvisierte ich ziemlich wild eine fetzige Version von, Caravan‘. Ein paar Glatzköpfe mit Springerstiefeln buhten uns aus. Hinterher gab`s Stress mit der Bezahlung. Wir hatten einen kleinen Vorschuss kassiert, verzichteten lieber auf den Rest und verdrückten uns. Ich fuhr mit dem Roller die Landstraße 34 zum Lager. Auf einmal kam mir ein Wagen entgegen. Er war schnell. Er wechselte auf meine Spur und fuhr frontal auf mich zu. Obwohl das alles in Sekundenbruchteilen passierte, kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Es war, als wäre ich aus mir herausgetreten und würde mich wie ein Zuschauer bei dem Versuch beobachten, mein Leben zu retten. Den Fahrer und den Wagentyp konnte ich nicht erkennen. Er wurde auch nie ermittelt. Falls überhaupt in meinem Fall ermittelt wurde. Nur die dunkle Farbe des Wagens nahm ich wahr. Ich zog nach links, geriet in die Böschung, flog mitsamt Roller durch die Luft und schlug hart auf. Meine wertvolle Geige, auf die schon vor zweihundert Jahren meine Vorfahren gespielt haben, krachte auf den Schotterrand und zersplitterte in tausend Stücke. Der Roller war Schrott. Beide Beine waren kompliziert gebrochen. Ich hatte am ganzen Körper Prellungen. Am Rücken fühlte ich warmes Blut. Ich wurde bewusstlos. Als ich wieder zu mir kam, waren die Sanitäter da. Sie hatten mich auf eine Bahre geschnallt und brachten mich unter Sirenengeheul in das Krankenhaus der frommen Helenen. Dort operierte man mich nach zwei Tagen. Sie befestigten mit zahlreichen Nägeln, Schrauben und vielen Metallplatten meine zertrümmerten Knochen. Irgendwann muss ich kurz zu mir gekommen sein. Ich kann mich noch erinnern, dass mir der gekachelte Fußboden des Krankenhauszimmers entgegenkam. Als ich aus der Narkose erwachte, befand ich mich in einem berufsgenossenschaftlichen Krankenhaus in Duisburg. Ich hatte fürchterliche Kopfschmerzen und kein Gefühl in meinen Beinen. Ich konnte sie nicht mehr bewegen. Dies ist bis heute so. Ein Pfleger erklärte mir, dass ich ein paar Tage nach der Operation aus dem Bett gestürzt bin. Dabei hätte ich meine Wirbelsäule verletzt und sei seitdem vom 7. Wirbel abwärts gelähmt.“
Zigeuner sind eloquent. Sie lieben Geschichten und das Gespräch. Deswegen können ihre Kinder schon sehr früh perfekt und in mehreren Sprachen sprechen, während manche von ihnen ihr Leben lang Analphabeten bleiben. Eine schriftliche Überlieferung, wie die Gadsche, kennen sie nicht. Sie haben eine ausgefeilte Sprache, aber keine Schrift. Alles wird unmittelbar mündlich tradiert, von Mensch zu Mensch, nicht von Papier zu Mensch. Möglicherweise sind deshalb ihre Beziehungen tiefer und warmherziger. Vielleicht hat Platon recht, wenn er Sokrates sagen lässt, dass die den Ägyptern vom Gott Theut geschenkte Schrift nicht die Weisheit selbst, sondern nur ihren Schein enthalte und wahre Weisheit nur durch die lebendige und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden vermittelt werden könne. Deswegen sei mit der Entdeckung der Schrift das Zeitalter der Weisheit gestorben und das der Philosophen, der Freunde der Weisheit, geboren worden.
„Können Sie mir helfen?“, fragte er mich.
Ich erklärte ihm, dass es viel zu früh für Prognosen sei. Ich müsse zunächst die Krankenakten untersuchen und lesen, um herauszufinden, was genau passiert sei. Mir schien, dass sich die Miene der mich genau beobachtenden, runzeligen Alten, kurz aufhellte. Goran nickte mir zu. Ich spürte allmählich die Wirkung des durch meine Adern in Richtung Hirn rollenden Alkohols. Goran war, als der älteste, der Anführer der Gruppe. Die alte Frau war seine Schwester. Ihr Name war Ilona Luminitia, sie nannten sie Luminiz. Die Gruppe bestand im Sinne des komplizierten Genealogieverständnisses der Gadsche aus zwei Stämmen, nämlich dem Borans und seiner Abkömmlinge und dem seiner verwitweten Schwester und deren Abkömmlinge. Insgesamt waren es circa 20 Personen. Für die Zigeuner war es eine Familie, sie unterschieden nicht die Stämme. Schließlich war jeder mit jedem verwandt und im Grunde gilt das für die gesamte Menschheit. Von Zeit zu Zeit gesellten sich Angehörige anderer Familien hinzu, um bei ihnen den Winter zu verbringen. Manchmal lösten sich einige ab, um eine eigene Kumpanija zu gründen, manche kehrten zeitweise oder für immer zurück. Streit untereinander schien es niemals zu geben. Jedenfalls drang von irgendwelchen Zwistigkeiten nichts nach außen.
Inzwischen stand der sich erbarmende Mond, den Horden von Wölfen, Hunden und Dichtern angeheult haben, mit seiner Trostgebärde, rund, fett und leuchtend am Himmel und wachte über das Geschick all derer, die erlöst werden wollen, auch über Chakka, seinen Clan und mich. Die Plätze um das Feuer lichteten sich. Stillschweigend hatten sich das schöne Mädchen, Pustina, Goran und die anderen zurückgezogen. Auch mir drohten die Augen zuzufallen. Ich legte mich, um kurz in einem Sekundenschlaf auszuspannen auf eine Isomatte, die neben einem Stuhl lag. Plötzlich erhob sich Luminiz. Ihr Körper straffte sich. Sie begann, leise murmelnd in Romanes zu singen. Dann wurde ihre Stimme immer lauter und melodiöser. Während sie ihren Text und die Melodie improvisierte, veränderte sich ihr Gesicht. Ihre schwarzen Haare fielen über ihre zuckenden Schultern. Es war das Haar einer jungen Frau, ohne eine Spur grauer Farbe. Zeitloses schwarzes, schweres Haar. Die Runzeln und Falten in ihrem Gesicht verschwanden, je lauter sie sang. Verzückt und verzaubert hörte ich ihrem Gesang zu. Er schien von den letzten Dingen zu handeln, um die es in dieser Welt geht und dem, was das Leben verdammens- oder lebenswert macht. Sie ähnelte mehr und mehr dem schönen Mädchen, die wahrscheinlich eine ihrer Ururenkelinnen war. Vor Seligkeit, Wohlbefinden und wohl auch wegen des schweren Weins fielen mir die Augen zu. Ich rollte mich, eingehüllt in ihre Töne, auf der Matte zusammen und fiel sanft in einen tiefen, traumlosen Schlummer.
Als ich nach ein oder zwei Stunden erwachte, saß Luminiz neben mir und stocherte mit einem Stock in der Glut. Über mir lag eine wärmende Decke. Ich fühlte mich wohl und geborgen. Sie schaute mich an und lächelte. Offenbar hatte sie mir die Decke geholt.
„Du bist kein normaler Gadscho. Bist du sicher, dass da nicht ein Zigeuner unter deinen Vorfahren war?“, wollte sie wissen.
„Wie kann man sich über irgendwas sicher sein?“, entgegnete ich.
Ich bin Rheinländer. Denen sagt man Ähnliches nach, wie den Zigeunern. Rechts und links des Ober- und Mittelrheins, wo der Wein wächst, soll man schon mal gerne fünfe gerade sein lassen, es mit der Pünktlichkeit nicht allzu genau nehmen, schlitzohrig sein und zu feiern verstehen. Auch hätten sie dort große Freude am Gespräch, an der komödienhaften Selbstinszenierung und dramatischen Gefühlsausbrüchen. Ebenso dürfte die bis an die Grenze zum Aberglauben gehende rheinische Religion mit dem Reliquienkult, der Verehrung unzähliger Heiliger und dem Gedanken, dass gegen kleine Auflagen auch größere Sünden vergeben werden, den Zigeunern nicht fremd sein.
„Meinst du, du kannst was für Chakka erreichen?“, fragte sie. „Er hat furchtbar viel Unglück erlitten. Nicht nur der Unfall, wenige Wochen, nachdem er wieder zu Hause war, starb sein Cousin Tshurka an einem Herzversagen. Sie sind zusammen aufgewachsen, sie haben zusammen sprechen gelernt und sind gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Sie waren unzertrennlich. Ich glaube, er fasst wegen Tshurkas Tod kein Instrument mehr an und hat das Lachen verlernt.“
„Seien Sie versichert“, wich ich ihrer Frage aus, „ich werde alles versuchen.“
Sie erwiderte: „Wenn du mich weiter siezt, bin ich beleidigt. Es gehört sich nicht, eine Dame zu siezen, neben der man geschlafen hat, es sei denn, sie ist keine.“ Sie grinste. Ältere Damen flirten bisweilen auf sehr drastische Weise. „Du wirst ihm helfen“, sagte sie und legte ihre Hand auf meine Stirn.
Ich zitierte Mephistopheles, ohne die Quelle zu nennen: „Was ich vermag, soll gern geschehen“, nickte ihr nachdenklich zu, stand auf und ging nach Hause. Mit welchen Teufeleien die Angelegenheit, auf die ich mich eingelassen hatte, gespickt war und noch garniert werden würde, war mir nicht im Entferntesten klar. Vielleicht hätte ich sonst die Finger davongelassen.
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