Leseprobe

 „Was ham‘ wir denn da?", sagte der Schnauzbärtige, der wahrscheinlich vermutete, ein großes Stück Haschisch oder noch Schlimmeres bei dem Herrn Verteidiger entdeckt zu haben, und hoffte, auf meine Kosten endlich zur lang ersehnten Beförderung zu kommen. Von  jeher finde ich Schließer komisch. Sie zeichnen sich oft durch einen seltsamen Humor und eine noch seltsamere Lebenskonzeption aus. Denn wer begibt sich schon freiwillig in den Knast und unterscheidet sich, was Anwesenheitszeiten anbelangt, bei Nachtdienst dann noch nicht einmal von Freigängern? Er griff erwartungsvoll nach der Plastiktüte.

„Irgendwann muss ich ja mal was essen“, sagte ich, während er den Inhalt feststellte. Seine Hoffnung auf den grandiosen Fund löste sich in nichts auf.

„Das sind meine Lieblingsfrikadellen", erklärte ich, ihn anlächelnd, ohne zu lügen, denn andere kannte ich nicht. Er lächelte zurück, wahrscheinlich freute ihn, dass mein Mittagessen spärlicher ausfiel als seines und reichte mir die Plastiktüte. „Das nächste Mal essen Sie draußen. Aber diesmal will ich mal nicht so sein.“

Ich bedankte mich artig und steckte die Frikadellen wieder in meine Handakte.

 

Üblicherweise wartet der Anwalt auf Untersuchungsgefangene mindestens eine halbe Stunde. Bei diesem Besuch fiel das Warten aus. Kussowski befand sich bereits in der Besucherzelle und ihm gegenüber saß Rechtsanwalt Zülpiger, der entspannt seine Füße auf dem Tisch gelagert hatte. Zwar hatte ich viel von ihm gehört, persönlich begegnet waren wir uns aber noch nie. Der Mann gab zur Legendenbildung, der er gerne nachhalf, allen Anlass. Zunächst fiel seine bis in jedes Detail austarierte, schlanke und gepflegte Erscheinung auf. Die trotz seines Alters von etwa Mitte 50 vollen braunen Haare waren straff aus der Stirn gekämmt. Jedes Härchen saß an seinem Platz. Trotzdem fuhr er bisweilen mit einem lässig eleganten Handgriff über seinen eindrucksvollen Schopf und strich sich imaginäre in die Stirn und über die Ohren fallende Strähnen nach hinten. Er besaß einen Charakterkopf mit eindrucksvollen eingegerbten Falten um den Mund und auffallend klaren und hellen Augen, mit denen er energisch fordernd in die Welt sah. Ich suchte höchstens dreimal im Jahr einen Frisör auf, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ, er ließ die kaum notwendigen Korrekturen sicher alle zwei Wochen vornehmen. Während Zülpiger unbestreitbar ein Meister der Selbstdarstellung war, lautet einer meiner ehernen Grundsätze: Mehr Sein als Schein. Gekleidet war er ebenso auffallend korrekt in einen mit einem dezenten schwarzen Streifen durchwirkten dunkelblauen Anzug, die Bügelfalte seiner Hose hielt selbst jetzt akkurat, während er auf seinem Stuhl nach hinten wippte. Das von dem schmalen Deckenfenster einfallende Licht spiegelte sich auf dem blank geputzten Leder seiner handgefertigten italienischen Schuhe. Seine äußere Erscheinung, die den überzeugenden Eindruck einer konservativen Seriosität vermittelte, hatte er durch einen kleinen goldenen Ring in seinem linken Ohr, einen breiten, locker an seinem rechten Handgelenk sitzenden Platinreifen und einem funkelnden Diamantring an seinem linken Finger, etwas zu üppig aufgelockert. Anders als die kleinen Mädchen in China, die als Kinder zu große Jadereifen umlegen, in die sie im Laufe der Jahre hereinwuchsen und die sie nie wieder über ihre Hände ziehen können, hatte sich Zülpiger seinen Armreifen anschmieden lassen. Unter der gestärkten Manschette seines weißen Hemdes, die mit einem eingefassten, blau-rosa schimmernden Mondsteinknopf zusammengehalten wurde, ringelte sich eine grellbunte Tätowierung hervor, die um sein Handgelenk geführt war. Sie stellte eine Schlange dar, deren züngelnder Kopf auf dem Rücken seiner linken Hand lagerte. Vermutlich setzte sich die Körperzeichnung auf seinem gesamten linken Arm fort. Auch Haftbrüder erkennt man an ihren Tätowierungen. In geistiger und körperlicher Unfreiheit nehmen Verletzungen bei sich selbst und beim Nächsten zu, die körperliche Integrität verliert an Wert. Solche Barbarei kann zu unvorstellbaren Dimensionen wachsen. Vor über einem halben Jahrhundert wurden in Deutschland Häftlinge von Amts wegen durch Körpergravur gekennzeichnet und ihre Schinder ließen sich Blutgruppen und Parteimitgliedsnummern stechen. In den neunziger Jahren kündigte sich ein  unvergleichbar weniger schlimmes, aber ernstzunehmendes  Symptom an. Aber die Tatoomode, die irgendwelche amerikanischen Popikonen in die Welt setzten und die wenige Jahre nach unserer bevorstehenden Jahrhundertwende dazu führen sollten, dass jedes modebewusste junge oder alte Mädchen irgendwo eine mehr oder weniger große Verzierung auf ihren Körper stechen lassen würde, war noch in angenehmer Ferne. Eben Zülpigers sorgfältige Mischung von großbürgerlicher Gepflegtheit und subkultureller Verwegenheit verkörperte perfekt die Eleganz, von der alle Drillichanzugsträger träumten.

Er praktizierte seit über dreißig  Jahren und übernahm ausschließlich Strafrechtsfälle. Zurzeit vertrat er etwa drei Viertel aller Inhaftierten der im Umkreis von 500 km liegenden Gefängnisse, die untereinander seinen Ruhm verbreiteten. So hatten seine Mithäftlinge auch Kussowski so lange in den Ohren gelegen, unbedingt Kontakt mit Zülpiger aufzunehmen, bis er sich hierzu schließlich bereitgefunden hatte. Alles, was in Zülpigers Leben zählte, waren Quantität und Qualität seiner Arbeit. Ohne Zweifel war er ein hervorragender Strafverteidiger, der seine Mandanten entsprechend seinem Ruf erstklassig gegen erstklassige Bezahlung vertrat.

Ich begrüßte zunächst Kussowski, der mich nicht ansah, als ich ihm die Hand schüttelte. Zülpiger dagegen begrüßte mich, indem er halb liegend, halb sitzend, ohne seine Position zu verändern mit seiner rechten Faust leicht gegen meine Brust klopfte. Konventionelle, bürgerliche Verhaltensweisen hatte er, zumindest in dem Rahmen, in dem wir uns hier erstmalig begegneten, abgelegt.

„Hey Alter, ich hab von dir gehört“, log er mich freundlich an. Nicht etwa, dass ich ein besonders exponierter Strafverteidiger gewesen wäre. Meine Leidenschaft in beruflichen Dingen, falls es so etwas gibt, gilt anspruchsvollen Zivilrechtsfällen, in denen es darum geht, schwierige Sachverhalte und Rechtsfragen bis in ihre feinsten Verästelungen durch Auslegungskünste dem gewünschten Ergebnis zuzuführen. In den anspruchsvolleren Fällen feilte ich an meinen Schriftsätzen so lange herum, bis die entwickelten Rechtslösungen zu juristischen Kabinettstückchen wurden, wie Kieselsteine durch eine kunstvolle trügerische Schleiftechnik das Ansehen von Diamanten bekommen können oder Blech durch geschickte Politur das von Silber annimmt. Manchmal schrieb ich meine Ausführungen zu Aufsätzen um, die in der juristischen Fachpresse veröffentlicht wurden und zu dem ein oder anderem Rechtsproblem eine kleine Fachdiskussion unter den Rechtsgelehrten in Gang setzten. Das befriedigte meine Eitelkeit, brachte aber keine Einnahmen.

Promoviert hatte ich im Arbeitsrecht. Zwar hatte auch ich einschlägige Erfahrungen anderer Art zu verzeichnen; ich kannte die Urerfahrung, die die Verteidigung eines Kapitalverbrechens mit sich bringt. Da es für den Mandanten hierbei in aller Regel um alles geht, fallen bei dem guten Verteidiger alle Schranken. Begriffe wie Peinlichkeit, Schamhaftigkeit, Respekt vor dem Gericht verlieren ihren Sinn. Die eigene Person wird ihm bedeutungslos, dem Verteidiger wird gleichgültig, wie die anderen Prozessbeteiligten, die Öffentlichkeit und selbst sein Mandant ihn sehen. Es geht nur noch darum, für diesen das Bestmögliche zu erreichen.

Während des Mandats ist der Verteidiger ausschließlich darauf fixiert, was als Nächstes zu tun ist. Dabei kann sich das Tempo rasant beschleunigen und die wesentlichen Ereignisse können in den Zeitraum kurz vor Prozessende fallen, wie sich auch in Kussowskis Fall zeigen sollte. Das schließt, solange das Verfahren dauert, aus der Gesellschaft ähnlich wie eine Strafhaft aus. Hat man einmal diese Erfahrung hinter sich gebracht, verändert sich das Prozessverhalten auch in Zivilrechtsfällen. Das Parteiengehabe tritt zurück, die Sachlichkeit hervor. Gegen unsachlich handelnde Richter ist man gewappneter, als ein ausschließlich zivilrechtlich tätiger Anwalt.

Zülpiger hatte selbstverständlich nichts von mir gehört. Er kannte mich überhaupt nicht. Seine Bemerkung diente allein dem Zweck, Kussowski zu zeigen, dass er alles und jeden kannte, der mit seiner Materie in Berührung stand.

„Hör zu, Alter““, erklärte er ihm, „für dich geht’s jetzt um die Wurst. Du brauchst die beste Verteidigung, die möglich ist. Du bist für die so was wie ein Alien, ein Exterritorialer aus der fremden, wilden Welt. Die verstehen von dir nichts. Aber wir beide wissen`s besser. Wir werden denen zeigen, wo‘s lang geht."

Zülpigers Masche war leicht zu durchschauen, aber wirkungsvoll. Zunächst traf er die jeweilige Sprachebene des zu akquirierenden Häftlings. Er benutzte exakt die Sprache, die dem Sozialstand seines Gegenübers entsprach. Bei Bedarf flocht er in seine Formulierungen Versatzstücken aus dem Ganovenrotwelsch ein, das er wie seine Muttersprache beherrschte. Sein Repertoire umfasste die von Anglizismen durchsetzte Modesprache jugendlicher Drogentäter ebenso, wie ihm der Gossenjargon zweitklassiger Vorstadtzuhälter mühelos zu Gebote stand. Dadurch stellte er sich mit seinen Kunden auf dieselbe soziale Stufe, was dem hilflosen, ausgestoßenen Knastbruder schmeichelte und in seiner Situation unendlich wohltat. Hernach beeindruckte er durch großtuerische Sprüche, die seinem Gesprächspartner Sicherheit vermittelten, nebenher ließ er seine Erfahrungen einfließen.

 „Du wirst sehen, die fressen mir aus der Hand.“ Und: „Wenn ich will, dass der Richter lacht, dann lacht er, wenn ich will, dass der Richter weint, dann weint er.“

Er duzte sofort fast jeden, hiervon blieb auch ich, der Wert auf das „Pathos der Distanz“ legt, nicht verschont. Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der derart schnell und intuitiv erfasste, was er wie und wann sagen musste, um der grenzenlosen Bewunderung seines Gegenübers sicher sein zu können.

 Als vor Jahren eine buddhistisch orientierte Sekte in Verruf gekommen war und mehrere ihrer führenden Mitglieder verhaftet wurden, ließ Zülpiger das Gerücht ausstreuen, er habe sein Leben geändert und sei Buddhist geworden. In der Gerichtskantine aß er seitdem nur noch fleischlose Gerichte. In den Folgejahren bis heute vertrat er daraufhin sämtliche Sektenmitglieder, gegen die Ermittlungsverfahren liefen, und verdiente sich hierdurch mehrere Eigentumswohnungen. Dies hinderte ihn allerdings nicht, nach einer der Frikadellen zu greifen, die ich vor Kussowski auf den Tisch legte. Kussowskis Augen begannen sofort zu strahlen. Er  schnappte schnell nach der zweiten und im Fleischgenuss vereint, kauten er und Zülpiger einträchtig.

Als er fertig war, rülpste Zülpiger, zog seinen Nasenschleim hoch und fuhr dann fort: „Wir müssen denen klarmachen, wer du bist. Du bist doch nicht dumm. So klug wie die bist du schon längst. Was der Schmier fehlt, ist dein Motiv. Die Zeugin hat dich nicht erkannt, das ist hinzubekommen.“ Zu mir gewandt: „Ich habe nix dagegen, wenn du mir bei der Verteidigung hilfst. Wir machen das zusammen, vielleicht kannst du noch was von mir lernen.“

Ich fragte: „Wie viel kostet das denn?“

Da Zülpiger mit acht Verhandlungstagen á 2.500 Mark rechnete, wollte er ein Pauschalhonorar von 20.000 Mark, die Hälfte im Voraus. Kussowski zog die Augenbrauen hoch.

„Wenn Sie einen Wahlverteidiger nehmen, entfällt die Pflichtverteidigung“, erläuterte ich ihm. „Umsonst arbeite auch ich nicht.“

 Kussowski konnte unmöglich 20.000 Mark aufbringen. Ich war erleichtert. Ich war schon in der Sache mittendrin und wollte das Mandat jetzt auf jeden Fall weiterführen. Nicht anders stand es bei Zülpiger. Das Renommée der Verteidigung in einem weiteren Mordprozess, von denen er schon über 200 geführt hatte, wollte er sich unter keinen Umständen entgehen lassen. Überraschend sagte er deshalb zu Kussowski, nachdem dieser erklärt hatte, kein Geld zu haben: „Okay, du tust mir leid, Alter, du bist ein netter Kerl und du brauchst den Besten. Ich mach’s ausnahmsweise als Pflichtverteidiger.“

Damit wäre die Sache für mich erledigt gewesen. Denn ein Angeklagter darf nun mal nur einen einzigen Pflichtverteidiger haben und dies wäre dann Zülpiger an meiner Stelle.

 

„Wie geht’s Emma?" fragte Kussowski unvermittelt.

Und jetzt spielte ich meinen Trumpf aus. „Sie war im Tierheim, in einem miserablen Zustand. Sie haben sie kastriert“, berichtete ich wahrheitsgemäß. Lügend fügte ich hinzu: „Ich hab sie ausgelöst und zu mir genommen, bis Sie wieder draußen sind.“

Diese anderthalbfache Notlüge erlaubte ich mir, denn sie diente einem guten Zweck, und außerdem würde ich sie nachträglich, soweit sie seinen Hund betraf, zur Wahrheit korrigieren. Ob Kussowskis Hund noch lebte, bis er aus dem Knast kam, war allerdings durchaus zweifelhaft und deshalb allenfalls die halbe Wahrheit. Wenn ich das Mandat behielt, würde ich sofort im Anschluss den Hund aus dem Tierheim holen und bei mir pflegen. Kussowskis Augen wurden leicht wässrig. Mit leiser Stimme fragte er: „Das haben Sie tatsächlich für mich getan?“

„Klar", antwortete ich, gewissermaßen meine Güte antizipierend. „Wer sollte das denn sonst für Sie tun?“

„Also was ist jetzt, Alter?“, unterbrach Zülpiger die aufkommende Rührseligkeit.

„Unser Treffen hat sich erledigt. Du kannst gehen"“, antwortete Kussowski.

In Zülpigers Augen blitzte Wut auf. „Das war ein großer Fehler“, sagte er mühsam gesichtswahrend und betätigte sofort die Klingel. Ich ließ mir nichts anmerken und sagte ganz leise und mit gespielter Wehmut: „Tja, Herr Kollege, jetzt kommt wohl die Zeit des schweren Abschieds von meinem Mandanten und mir“, und dachte darüber nach, dass das Goldblech an Zülpigers manikürten Händchen und aurikürten Öhrchen dem Edelkitsch entsprach, den er soeben von sich gegeben hatte und mit dem er Kussowski als Mandanten hatte gewinnen wollen. Dann setzte ich mein schönstes Grinsen auf, das ich zwischen Zülpiger und Kussowski gerecht verteilte. Zülpiger schaute mich völlig verblüfft an.

Bevor er etwas erwidern konnte, öffnete der Schließer und Zülpiger verließ wortlos die Zelle. Seitdem nannte mich Kussowski „Doc “, wenn er mich direkt ansprach.

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